Riemann-Thomann-Modell als Gruppenkompass

Eberhard Stahl (2012)

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Ziel

Die TeilnehmerInnen können Gruppen anhand der Achsen des Riemann-Thomann-Modells analysieren. Sie erkennen wenn Einzelpersonen drohen, sich in einer Gruppe nicht wohl zu fühlen und verstehen welche Änderungen für eine Gruppe notwendig sind um alle Personen einschließen zu können und/oder auf geänderte Anforderungen von außen reagieren zu können.

 

Kontext

 

Theorie

(basierend auf Stahl (2012): Dynamik in Gruppen: Handbuch der Gruppenleitung)

 

Stahl passte das Riemann-Thomann-Modell für die Analyse von Gruppen an. Es dient dabei nicht als Ersatz von Phasen-Modellen (z.B. Teamphasen nach Tuckman) sondern beschreibt ergänzend die Struktur einer Gruppe.

Jede Gruppe zeichnet sich durch gruppenspezifische Werte (z.B. wie werden Apelle formuliert oder wie gehe ich mit Gefühlen um) aus. Anhand dieser Werte kann man für jede Gruppe ein Gruppenfeld im Riemann-Thomann-Kreuz aufspannen.

 

Abb.1_riemann_thomann_gruppeAbb. 1: Das Gruppenfeld im Riemann-Thomann-Kreuz

 

Zeichnet man nun in einem zweiten Schritt die Heimatgebiete der Gruppenmitglieder oder einfach nur deren Schwerpunkte ein so erkennt man relativ leicht, welchen Mitgliedern es leichter fällt sich gruppenkonform zu verhalten und welche sich dazu sehr anstrengen müssen. Etwaiges Konfliktpotential innerhalb der Gruppe wird dadurch offensichtlich.

 

Abb.2_riemann_thomann_gruppeAbb. 2: Das Gruppenfeld ergänzt um die Schwerpunkte der Gruppenmitglieder

 

Stahl beschreibt basierend auf den vier Quadranten des Riemann-Thomann-Modells vier „typische“ Gruppen.

 

Gruppenkompass Gruppenfeldtypen

 Abb. 3: Die vier Gruppenfeldtypen

Gemeinschaft

Bei einer Gemeinschaft sind Dauer und Nähe stark ausgeprägt. Stahl beschreibt sie mit Zusammengehörigkeitsgefühl, „Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit und Prinzipientreue verbinden sie mit Solidarität, wechselseitiger Umsorgung und emotionaler Wärme.“  [Stahl 2012 S. 257] Individualismus, Exzentrik und Konkurrenzkampf werden strikt abgelehnt. Ein hohes Maß an Sicherheit geht auf Kosten der Freiheit der einzelnen Gruppenmitglieder. Beispiele für Gruppen des Typs Gemeinschaft sind die Familie, Vereine und Selbsthilfegruppen.

 

Ausgehend vom Phasenmodell nach Tuckman:

Als TrainerIn muss man im Storming unterstützen und im Norming die Gruppe vor faulen Kompromissen schützen.

Besteht der Auftrag die Gemeinschaft zu mehr Wechselbereitschaft zu bewegen, so sollte „eine überzeugende Grobplanung und überschaubare Etappenpläne“ [Stahl 2012 S. 258] vorhanden sein. Soll an der Distanz gearbeitet werden und damit „Konkurrenz, Unterschiedlichkeit, Eigensinn und Abstraktheit“ [Stahl 2012 S. 258] gefördert werden, so muss für die Gruppe „ersichtlich [sein], wie sie letztlich gemeinschaftsdienlich wirken können.“ [Stahl 2012 S. 258]

 

Truppe

In einer Truppe sind Dauer und Distanz vorherrschend. „Sie besitzt eine klare Hierarchie und pflegt einen sachlich-förmlichen Umgangsstil. Das Miteinander zielt auf Korrektheit […] und messbaren Erfolg […] ab.“ [Stahl 2012 S. 258] Nicht erlaubt sind Emotionen oder unkonventionelle oder gar willkürliche Aktionen.

Gleich wie die Gemeinschaft bietet die Truppe ihren Mitgliedern ein hohes Maß an Sicherheit, gleichzeitig aber auch Freiheit. Etwaige Bedürfnisse nach Nähe müssen jedoch im privaten gestillt werden. Beispiele für Truppen sind das Militär und die Verwaltung.

 

Ausgehend vom Phasenmodell nach Tuckman:

Als TrainerIn muss man im Storming unterstützen, da Beziehungskonflikte nur auf der Sachebene ausgetragen werden können.

Will man die Truppe mehr in Richtung Nähe / Wechsel bewegen, so wird man dazu laut Stahl nur dann auf keinen erbitterten Widerstand stoßen, wenn sich die Notwendigkeit dazu aus der Sache erschließt.

 

Team

Teams schreiben Wechsel und Nähe sehr groß. Anstelle von Einzelkämpfern steht das Team. „Lebendigkeit, Kreativität und Flexibilität verbinden sich mit Warmherzigkeit, Offenheit und Teamgeist. In Teams hat Intensität einen hohen Stellenwert.“ [Stahl 2012 S. 259] Die Freiheit des Einzelnen wird hoch gehalten und bietet gleichzeitig Sicherheit was das Dazugehören zum Team angeht. Beispiele für Teams sind Cliquen und Freundeskreise sowie das gängige Gruppenideal in Firmen.

 

Ausgehend vom Phasenmodell nach Tuckman:

Als TrainerIn muss man im Storming unterstützen, da Teams dazu neigen „das rechte Thema zu verfehlen und zwischenmenschliche Dramen zu inszenieren.“ [Stahl 2012 S. 259] In der Norming-Phase muss darauf geachtet werden, dass sie nicht (vorläufig) übersprungen wird, da man sich keine verbindlichen Regeln ausmachen möchte.

Eine Entwicklung des Teams hin zu mehr Dauer und Distanz ist laut Stahl durchaus möglich, wobei darauf zu achten ist, dass man das bestehende Gruppenfeld nicht grundsätzlich überfordert oder in Frage stellt.

 

Haufen

Der Haufen wird von Distanz und Wechsel geprägt. „Der Umgang miteinander ist ebenso distanziert und unverbindlich. Das wesentliche Ziel besteht darin, den Mitgliedern viel Freiheit und individuellen Spielraum zu sichern. Regeln dienen weniger der guten Kooperation als vielmehr der Absicherung von Territorien. Unabhängigkeit der Einzelnen, Effizienzdenken und Sachorientierung verbinden sich mit Nonkonformismus, Flexibilität und einer Mentalität, die Veränderungsdruck als Herausforderung begreift.“ [Stahl 2012 S. 260]

Ein Haufen hat stets ein klar definiertes Ziel welches in absehbarer Zeit erreichbar ist. Ist das Ziel erreicht ist dies auch das Ende des Haufens. Der Mangel an Sicherheit wird durch einen sehr hohen Grad an Freiheit ausgeglichen. Beispiele für Haufen sind interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Laut Stahl mag es auch die Gruppenform der Zukunft in beruflichen Bereich sein.

 

Ausgehend vom Phasenmodell nach Tuckman:

Als TrainerIn muss man darauf achten, dass sich die Gruppe genügend Zeit für das Forming nimmt. Im Norming kann es ebenfalls von Seiten der Gruppe den Versuch geben, Abkürzung zu nehmen.

Soll sich der Haufen hin zu mehr Nähe oder Dauer entwickeln so ist laut Stahl unbedingt auf die Freiheit der/des Einzelnen zu achten. Nur dann werden sich die Gruppenmitglieder auf eine Veränderung in diese Richtung einlassen.

 

Das Gruppenfeld und die Aufgabenstellung

In gut funktionierenden Gruppen passt das Gruppenfeld/der Gruppenfeldtyp zu den bisherigen (vorgegebenen) Aufgabenstellungen an die Gruppe. Ändern sich jedoch die Aufgabenstellungen, muss sich auch das Gruppenfeld ändern um diesen gerecht zu werden.

 

Stahl bringt dazu das gut gewählte Beispiel der Schaffner der Deutschen Bahn.

Früher hatten Schaffner die Aufgabe die Fahrgäste zu kontrollieren und SchwarzfahrerInnen zu disziplinieren. Im Zuge der Privatisierung änderte sich das Aufgabenprofil hin zur Kundenorientierung. Plötzlich wurde von den Schaffnern erwartet, freundlich und einzelfallorientiert zu sein. Auch sollten Sie nun kollegialer miteinander umgehen.

 

Das Gruppenfeld hatte sich durch die Änderung des Aufgabenprofils verschoben. Mehr Nähe und Wechsel waren gewünscht.

 

Abb.4_riemann_thomann_gruppeAbb. 4: Verlagerung des Gruppenfeldes durch eine neue Aufgabenstellung

 

Umgang mit Anpassungsdruck

Wird auf eine Gruppe ein Anpassungsdruck durch eine Änderung des Aufgabenprofils ausgeübt, hat sie nach Stahl drei Möglichkeiten damit umzugehen:

  • „Verleugnung. Der Anpassungsdruck wird einfach ignoriert […]
  • Assimilation. Das Problem wird mit dem vorhandenen [Gruppenvertrag] bearbeitet […]
  • Akkomodation. [Der Gruppenvertrag] wird so verändert, dass es [dem neuen Aufgabenprofil] gerecht werden kann“ [Stahl 2012 S. 266 ff.]

 

Verleugnung

Die geänderten Rahmenbedingungen werden einfach ignoriert. Man hofft darauf, dass sich das Problem von selbst löst.

Verändert sich das Anforderungsprofil nur temporär, ist dies eine durchaus sinnvolle Strategie, da sie der Gruppe viel Arbeit an sich selbst erspart.

Bleiben die geänderten Anforderungen allerdings bestehen, kann es leicht passieren plötzlich „von gestern“ zu sein.

 

Assimilation

Das „neuartige Problem [wird] als Sonderfall des Bekannten verstanden und mit bewährten Mitteln gelöst.“ [Stahl 2012 S. 267] Das geänderte Aufgabenprofil wird folglich so angepasst, dass es mit dem bestehenden Gruppenfeld/dem bestehenden Gruppenvertrag bearbeitet werden kann. Dies kann natürlich dazu führen, dass der eigentliche Sinn der Aufgabe nicht erhalten bleibt.

 

Akkomodation

„Bei der Akkomodation werden die bestehenden Strukturen so umgebaut, dass sie dem Neuen gerecht werden.“ [Stahl 2012 S. 268] Der Gruppenvertrag wird dementsprechend aufgemacht. Im Phasenmodell muss die Gruppe daher zurück an den Start. Alle bestehenden Rollen- und Machtverteilungen werden neu gemischt und erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten in der Gruppe neu definiert. Ziel ist es, am Ende einen neuen Gruppenvertrag zu haben, welcher „jene Interaktionen, Verhaltensweisen und Ziele [freigibt], die für die Aufgabenbewältigung notwendig oder förderlich sind.“ [ebd.]

Dieser Prozess ist sehr aufwendig und zahlt sich folglich nur aus, wenn die geänderten Aufgabenstellungen von Dauer sind. Er läuft im Allgemeinen nicht ohne erhebliche Irritationen bei den Gruppenmitgliedern ab und es kann durchaus sein, dass sich am Ende nicht alle Gruppenmitglieder im neuen Gruppenvertrag wiederfinden können und als Folge daraus die Gruppe (im Frieden) verlassen.

Gleichzeitig stellt aber nur die Akkomodation die Gruppe so auf, dass sie fit für die Zukunft ist.

Bei der Akkomodation unterscheidet Stahl zwei Varianten. Die Feldverschiebung und die Felderweiterung.

 

Feldverschiebung

„Kurzfristig ist die Feldverschiebung der –erweiterung meistens überlegen. Der Austausch eines alten gegen einen neuen Gruppenvertrag und eine dementsprechende Umbesetzung der Gruppe können – vor allem wenn sie von oben oder von einer mächtigen Mehrheit durchgesetzt werden – die rasche Handlungsfähigkeit der Gruppe im neuen Feld gewährleisten.“ [Stahl 2012 S. 271]

 

Abb.5_riemann_thomann_gruppeAbb. 5: Feldverschiebung

 

Felderweiterung

„Bei der Felderweiterung wird der bestehende Gruppenvertrag so ergänzt, dass sich das Feld ausdehnt. […] Eine Felderweiterung fordert von der Gruppe sehr viel mehr Toleranz und eine differenziertere Streit- und Absprachenkultur als eine Feldverschiebung, da innerhalb des erweiterten Feldes heterogene Ziele verfolgt werden können und dürfen bzw. komplexe Kompromisse erforderlich werden.“ [Stahl 2012 S. 272]

Langfristig steigt dadurch jedoch die Möglichkeit der Gruppe auf verschiedenste Anforderungen zu reagieren. Auch vertiefen sich die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander.

 

Abb.6_riemann_thomann_gruppeAbb. 6: Felderweiterung

 

Praktische Einführung

In der praktischen Einführung des Modells erweist es sich als sinnvoll, zunächst den Gruppenkompass einzuführen bevor man die thematische Landkarte vorstellt.

 

Das Modell kann sowohl relativ oberflächlich behandelt werden als auch mit sehr großem Tiefgang. Wird es zum Beispiel in einem train-the-trainer Lehrgang eingesetzt, so eignet es sich, Gruppen gemeinsam zu analysieren und die Handlungsableitungen anhand des Modells zu erarbeiten.

 

Kommentar

Dieses Modell soll nicht als Ersatz für Phasenmodelle dienen, vielmehr soll es diese ergänzen.

Stahl vertieft sein Modell in [Stahl 2012 S. 279 ff.] noch weiter. Den vier Quadranten werden jeweils fünf Themen welche eine dort verortete Gruppe sehr stark prägen zugeordnet.

 

Richtiger Zeitpunkt/Voraussetzungen

Da dieses Modell das Riemann-Thomann-Modell erweitert, sollte dieses im Vorfeld bearbeitet werden.

 

Querverweise

 

Arbeitsmaterial

Vorschaubild der Vorlage zum Riemann-Thomann-Modell

Riemann-Thomann-Modell Vorlage

Die zwei Dimensionen auf einer A4-Seite eingezeichnet als Basis für Selbst- und Fremdeinschätzungen basierend auf dem Riemann-Thomann-Modell.

 

Weiterführende Literatur

Das Original von Stahl

 

Das Riemann-Thomann-Modell beschrieben von Thomann

 

Das Original von Riemann, auf welchem Thomann das Modell aufbaute

 

Beispiel-Training (70 – 90 Minuten)

Zeit Beschreibung Material
15’ Input zum Riemann-Thomann-Modell als Gruppenkompass Flipchart
10’ Eine Gruppe, die man gut kennt, mit dem Gruppenkompass analysieren – Einzelarbeit. Zettel (Arbeitsvorlage), Stifte
15’ Input zur thematischen Landkarte nach Stahl Flipchart
10’ Einordnung der Gruppe auf der thematischen Landkarte Zettel (Arbeitsvorlage), Stifte
20-40’ Vorstellen einiger erarbeiteter Gruppen vor der Großgruppe  

 

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