Wolfgang Rechtien (1997)
Ziel
Die TeilnehmerInnen erhalten mit den Gruppenphasen nach Rechtien ein Modell, mit dem sie aus dem Blickwinkel von Beziehungsstrukturen die Entwicklung der Gruppen analysieren können.
Kontext
Theorie
(basierend auf Rechtien (2007): Angewandte Gruppendynamik, S. 212 ff.)
Rechtien beschreibt fünf Phasen. Er setzt dabei die „Brille“ des Sozialpsychologen auf und betrachtet vor allem die Entwicklung der Beziehungsstrukturen. Die fünf Phasen sind:
- Fremdheit
- Orientierung
- Vertrautheit
- Konformität
- Auflösung
1. Fremdheit
Die Gruppe trifft sich zum ersten Mal. Hier werden die Grundsteine für die späteren Beziehungen gelegt. Themen, welche die Mitglieder bewegen: Sympathie, Antipathie, Verbündete, Konkurrenz. Man verhält sich zurückhaltend und ängstlich. In formellen Gruppen orientiert man sich stark am Gruppenleiter.
In Bezug auf den Gruppenleiter / die Gruppenleiterin kann die Phase noch einmal unterteilt werden:
1a. Abhängigkeit
Die Gruppenmitglieder sind voll auf die Gruppenleitung fixiert und fühlen sich vollkommen abhängig von ihr.
Wird diesem Anspruch von der Gruppenleitung nicht nachgekommen, z.B. in einem Gruppendynamik-Seminar, so sucht die Gruppe einen Ersatz.
1b. Gegen-Abhängigkeit
Die Gruppe musste feststellen, dass die, in der vorangegangenen Phase aufgebauten Erwartungen in die Gruppenleitung – nämlich dass er / sie für alles in der Gruppe zuständig ist – nicht erfüllt wurden / erfüllt werden konnten.
Aus dieser Enttäuschung kann Aggression entstehen, welche sich gegen die Gruppenleitung richtet. Gleichzeitig ist die Gruppe aber gerade durch die Aggression weiter voll auf den Leiter / die Leiterin fokussiert, wodurch sie nicht als von ihm / ihr unabhängig angesehen werden kann.
Rechtien nennt diese Phase die Gegen-Abhängigkeit um darzustellen, dass die Abhängigkeit aus dem Negativen gegenüber der Gruppenleitung resultiert.
Wichtig zu beachten ist, dass damit nicht eine gegenseitige Abhängigkeit beschrieben werden soll.
2. Orientierung
Es entstehen Beziehungen, sowohl positive als auch negative. Zwischen den Gruppenmitgliedern kommt es zu Machtkämpfen die nicht immer offen ausgetragen werden. Es geht den Mitgliedern um die Selbstbehauptung.
Gerade in informellen aber auch in formellen Gruppen verlassen in dieser Phase oft Mitglieder die Gruppe, weil sie sich nicht behaupten konnten.
3. Vertrautheit
Um die Gruppensituation besser bewältigen zu können, bilden sich Paare bzw. Untergruppen. Einzelnen Paaren bzw. Untergruppen werden nun Erwartungen, die bisher an die Gruppenleitung gerichtet wurden, übertragen.
Im Laufe der Phase verdichten sich die Beziehungen hin zu einer deutlichen Gruppenstruktur (Gruppennormen, Rollenstruktur, Kommunikationsstrukturen) und einem Wir-Gefühl.
Die Gruppe kann nun selbst handeln. Die Gruppenleitung ist dafür nicht mehr notwendig. Gleichzeitig kann sie weiterhin ihre Expertise einbringen, so diese von der Gruppe akzeptiert wird.
4. Konformität
Der Druck, Gruppennormen einzuhalten und an Gruppenaktivitäten teilzunehmen steigt. Einzelne Gruppenmitglieder, die Normen brechen oder Aktivitäten fernbleiben, können ausgestoßen werden.
5. Auflösung
Diese unausweichliche Phase wird von Abschied, der Reflexion über Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse und/oder Trauer bestimmt.
Praktische Einführung
Begleitend zur Vorstellung der Theorie erweist es sich oft als sehr hilfreich, wenn für jede Phase besprochen wird, was die Rolle der Gruppenleitung ist und was der Gruppe dabei hilft, in die nächste Phase zu gelangen:
1a. Fremdheit / Abhängigkeit
Rolle der Gruppenleitung
Die Gruppenleitung muss klare Vorgaben in Bezug auf Richtung und Struktur geben. In T-Gruppen wird dies bewusst nicht getan.
Was hilft den Gruppenmitgliedern?
Ein klarer Arbeitsauftrag (so dieser vorhanden ist), Transparenz.
Erwartungen und Befürchtungen der TeilnehmerInnen klären.
Viele Möglichkeiten, sich kennenzulernen und darüber auszutesten, was in der Gruppe erlaubt ist und was nicht.
Verschiedenste Aufgaben auswählen um den TeilnehmerInnen die Möglichkeit zu bieten, unterschiedlichste Fähigkeiten zu zeigen.
1b. Fremdheit / Gegen-Abhängigkeit
Rolle der Gruppenleitung
Die Gruppe ist weiterhin voll von der Gruppenleitung abhängig. Es braucht damit weiterhin klare Vorgaben in Bezug auf Richtung und Struktur. Gleichzeitig müssen etwaige Anfeindungen durch die Gruppe als Teil des Gruppenprozesses verstanden, akzeptiert und ausgehalten werden.
Was hilft den Gruppenmitgliedern?
Neben den gleichen Mitteln wie in Phase 1a, muss sich die Gruppe nach wie vor auf die Gruppenleitung verlassen können um die Fremdheit untereinander zu überwinden.
2. Orientierung
Rolle der Gruppenleitung
Die Gruppenleitung versucht den Prozess zu intensivieren.
Konflikte können nicht gelöst werden, die emotionalen Verletzungen sollten aber so gering wie möglich ausfallen (Moderation von Konflikten).
Was hilft den Gruppenmitgliedern?
Durch gezielte Interventionen erhalten die Gruppenmitglieder die Möglichkeit Machtkämpfe auszutragen. Methoden in denen die Gruppe etwas erreichen muss eigenen sich dafür besonders gut. Dadurch entstehen erste Gruppennormen und Rollen werden vergeben.
3. Vertrautheit
Rolle der Gruppenleitung
Die Gruppenleitung zieht sich langsam zurück und lässt Subgruppen ihre Aufgaben übernehmen. Gleichzeitig schafft man weiterhin Herausforderungen und setzt Impulse um die Gruppe in die nächste Phase zu bekommen.
Was hilft den Gruppenmitgliedern?
Die Gruppe benötigt die Möglichkeit Kooperation zu üben und Themen wie Gruppenleistung, Zugehörigkeit, soziale Identität u.a. zu bearbeiten.
Gruppennormen und Rollen aus der Orientierungsphase müssen ebenfalls noch einmal auf den Prüfstand, bevor sie endgültig feststehen.
4. Konformität
Rolle der Gruppenleitung
Sowohl die Gruppenleitung als auch die Gruppe selbst sollte darauf achten, dass der Druck zur Konformität nicht zu groß wird.
Was hilft den Gruppenmitgliedern?
Der Gruppe sollte die Möglichkeit geboten werden ihr hohes und immer stärker werdendes Wir-Gefühl zur Schau zu stellen.
Gleichzeitig sollten die negativen Aspekte von zu hoher Konformität im Auge behalten werden.
5. Auflösung
Rolle der Gruppenleitung
Die Gruppenleitung schafft einen entsprechenden Rahmen um sowohl eine persönliche als auch eine Gruppenbilanz ziehen zu können.
Was hilft den Gruppenmitgliedern?
Das Prinzip „Wahrheit vor Schönheit“ sollte beachtet werden.
Fällt es der Gruppe schwer unschöne Wahrheiten offen anzusprechen, helfen oft gezielte Aufforderungen an Einzelpersonen.
Kommentar
Eine Gruppe kann jederzeit in eine frühere Phase zurückfallen. Dies passiert vor allem dann wenn sich die Gruppenzusammensetzung ändert, indem jemand die Gruppe verlässt oder hinzukommt oder wenn eine Phase zu oberflächlich behandelt wurde.
Richtiger Zeitpunkt/Voraussetzungen
Hilfreich ist es, wenn die SeminarteilnehmerInnen als Gruppe schon in Phase zwei oder drei sind. Dadurch sind Querverweise zum aktuellen Seminar möglich.
Ist dies nicht möglich, so ist es hilfreich, wenn die TeilnehmerInnen über Führungserfahrung von zumindest einer beliebigen Gruppe aus dem Privat- oder Berufsleben verfügen. Ansonsten ist es schwer die Theorie mit Leben zu erfüllen.
Querverweise
- Teamphasen nach Tuckman
- Veränderungsmanagement nach Lewin
- Riemann-Thomann Modell als Gruppenkompass
- Riemann-Thomann Modell als thematische Landkarte
Weiterführende Literatur
Beispiel-Training (40 Minuten)
Zeit | Beschreibung | Material |
20’ | Vorstellung der Theorie | Flipchart |
20’ | Austausch welche Gruppen die TeilnehmerInnen kennen, wo diese „Brille“ sich besonders gut zur Analyse eignet. |
Eine Antwort auf “Gruppenphasen nach Rechtien”
Alexandra Streckova
Guten Tag,
ich habe vor 4 Jahren eine Gruppe, spirituelle Gruppe, geführt. Die Gruppe wählte mich wegen meines grossen Wissens aus und wollte mit mir arbeiten. Ich habe damals keine Erfahrungen mit Gruppenarbeit gehabt und ging daher ganz intuitiv vor. Ich wählte das T-Gruppe System (wir waren 9), also ohne feste Struktur, damit sich die Teilnehmer kennenlernen und wachsen. In der 2-jährigen Arbeit habe ich mit der Gruppe alle 5 Phasen erlebt. Ich hatte damals keine Ahnung, dass es diese Gruppenphasen gibt, die derartig ablaufen. Ich kann euch nur sagen, mit meiner Gruppe liefen sie ab wie nach einer Lektüre bzw. exakt wie oben beschrieben. Es war teilweise sehr sehr schwer, viele Konflikte und Klärungsbedarf, aber ich schafte es nach 2 Jahren bis in die Phase 5, zu einem konstruktiven Abschluss mit Gruppenbilanz.
Ich würde gern wissen, ob es in einer Gruppe immer zu diesen Phasen kommt?
Wie gesagt, einmal habe ich es schon als Gruppenführung erlebt, ob ich es ein zweites mal wagen würde ist fraglich. Kann man die Phasen irgendwie abmildern bzw. sind genau diese Phasen das Ziel einer Gruppenarbeit oder Bestandteil der Gruppendynamik?
Danke für die Antwort
Liebe Grüsse
Alexandra